Versucht man Mark Guilianas Musik in eine Kategorie zu stecken, stößt man schnell an seine Grenzen. Der amerikanische Schlagzeuger blickt zwar auf eine klassische Jazz-Schlagzeug-Ausbildung zurück, fühlt sich aber im Indierock, spanischen Flamenco, folklorischen Klängen sowie elektronischen Beats genauso zu Hause. Bekannt geworden durch seine Zusammenarbeit mit dem israelischen Bassisten Avishai Cohen, bewies er schnell sein außergewöhnliches Talent, gründete unter anderem das Jazz-Indierock-Trio Heernt und startete Kollaborationen mit den größten Jazz- und Rock-Künstlern und -Künstlerinnen unserer Zeit: Brad Mehldau, David Bowie, Matt Cameron, Dave Douglas oder seit einigen Jahren mit der Rocksängerin und Gitarristin St. Vincent.
Obwohl Guiliana bereits auf eine über zwanzigjährige Karriere zurückblicken kann, veröffentlicht er erst jetzt sein erstes vollständiges Soloalbum und führt in allen Bereichen zum ersten Mal Eigenregie: Komposition, Aufnahme und Produktion. Das Ergebnis ist ein Mix aus den unterschiedlichsten Einflüssen der letzten Jahrzehnte, geprägt von zahlreichen perkussiven Klanglandschaften, Klavierinstrumentals, elektronischen Synths oder sogar Spoken Word. MARK ist ein intimes Album, auf dem er sich den essentiellen Fragen seines Lebens widmet — und zu dem Schluss kommt, dass wir uns zu oft zu sehr auf die Antworten stürzen, als die richtigen Fragen zu stellen.
Wie würdest du deine Musik jemandem beschreiben, der dich nicht kennt?
Genau das ist das Problem (lacht). Das Problem besteht darin, die richtigen Worte zu finden, und ich versuche es immer gerne. Aber ich habe noch keine klare Antwort gefunden und ich denke, wir sind uns alle einig, dass das eine der Schönheiten der Musik ist. Sie kann Sachen ausdrücken, wenn die Worte versagen. Für mich ist Musik ein sich ständig weiterentwickelnder Ausdruck. Ich versuche immer, alle meine Einflüsse einzubeziehen, wann immer es möglich ist. Meine früheren Projekte waren vielleicht etwas leichter zu beschreiben, elektronische Beats passen in die Musikkategorie der Electronic Music, oder das Jazzquartett kann sich etwas leichter mit dem, was wir als klassischen Jazz definieren würden, identifizieren. Bei diesem Soloprojekt geht es darum, dass es nicht wirklich ein Genre ist, es ist genrefrei, zumindest in meinen Augen. Und es war wirklich aufregend zu erforschen, was möglich ist, sowohl bei den Solo-Shows als auch bei den Aufnahmen.
Ich glaube, dass man sich meistens mehr darauf konzentriert, sich selbst auszudrücken und zu versuchen, seine einzigartige Perspektive zu vermitteln. Aber um sich auszudrücken, muss man zuerst etwas über sich selbst erfahren. Darauf habe ich also mein Augenmerk gerichtet. Früher habe ich mich mehr auf den Ausdruck konzentriert und darauf, wie ich diesen gestalten möchte. Jetzt versuche ich herauszufinden, wer ich bin, Stück für Stück. Und was auch immer das ist, wird dann mein Ausdruck sein.
Hast du das Gefühl, dass du dich inzwischen besser kennst als vor fünf Jahren?
Vielleicht? Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich sehr wenig über mich weiß. Wenn ich auf meinen Katalog zurückblicke, bin ich auf alles stolz. Meine erste Platte als Bandleader war mit der Band namens Heernt, die 2006 herauskam. Das ist 18 Jahre her! Und natürlich könnte ich jetzt, wo ich ein bisschen mehr Erfahrung oder Wissen habe, sagen, ich hätte alles anders gemacht. Aber so zu denken ist verschwendete Energie für mich, denn ich hätte es nicht anders machen können, und genau das ist der Punkt. Wenn ich mir das Album anhöre, höre ich mein 25-jähriges Ich und bin eifersüchtig auf ihn, weil ich mich nicht mehr so verhalten kann. Ich habe all diese anderen Erfahrungen gemacht, und ich bin jetzt jemand anderes. Für mich ist es sehr wichtig, so oft ich kann, Dokumente meiner Musik zu erstellen. Es ist fast wie ein Tagebuch im Laufe der Zeit. So war ich damals, und es ist okay, wenn ich jetzt mit einigen Entscheidungen nicht einverstanden bin. Für mich fühlt sich die neue Platte MARK wie eine kristallisierte Version von mir selbst an. Also ja, vielleicht weiß ich jetzt ein bisschen mehr über mich als früher. Aber wir können ja in fünf Jahren noch einmal darüber reden und sehen (lacht).
Zwischen elektronischen Beats, Rockmusik und klassischen Jazzklängen — wo und wie hast du all deine musikalischen Einflüsse gefunden?
Ich habe 1995 angefangen, Schlagzeug zu spielen. Ich bin in einem Vorort in New Jersey, außerhalb von New York City, aufgewachsen und war ein ganz normales Kind, das Radio und MTV hörte. Und zu dieser Zeit liefen dort Soundgarden, Pearl Jam oder Nirvana und solche Sachen, das war die erste Musik, die ich auf dem Schlagzeug zu spielen begann und dadurch hat sie immer einen ganz besonderen Platz in meinem musikalischen Leben. Das wird immer mein Zuhause sein, auch wenn viele der Projekte, an denen ich danach beteiligt war, sehr weit von dieser Musik entfernt sind. Seit ein paar Jahren arbeite ich mit der großartigen Künstlerin St. Vincent zusammen und dabei spielen wir auf wirklich großen Bühnen und Festivals, das kommt den frühen Rock-Anfängen bis jetzt am nächsten.
Ein wahr gewordener Kindheitstraum sozusagen?
Auf jeden Fall! Und das wirklich Verrückte ist, dass es auf ihrem neuen Album einen Song namens Broken Man gibt, auf dem ich mitspiele und am Ende, in den letzten 30 Sekunden, übernimmt Dave Grohl. Der Übergang geht also von mir auf Dave — und für mich wiederum ist er einer der allerersten Einflüsse, als ich mich das erste Mal ans Schlagzeug setzte und zu Nirvana mitspielte. Es ist sehr surreal, diese Bögen zu spannen und diese Erfahrungen zu machen. In den Jahren davor habe ich mich professionell nicht so sehr mit dieser Musik auseinandergesetzt, so dass es einige Leute verwundert hat, mich mit Annie (St. Vincent) zu sehen. Aber eigentlich ist es für mich das, was ich am fast besten kann.
Du hast dich dann aber für eine Ausbildung im klassischen Jazz entschieden. Wie kam es dazu?
Als ich anfing Schlagzeugunterricht zu nehmen, lernte ich alle möglichen Stilrichtungen kennen. Und der Jazz hatte etwas Besonderes an sich — ich glaube auch, weil das Schlagzeug im Jazz erfunden wurde. Es wurde geschaffen, um diese Musik zu unterstützen. Es ist außerdem ein sehr junges Instrument, ein bisschen über 100 Jahre alt. Ich dachte mir immer, dass die besten Schlagzeuger an der Uni die Leute aus der Jazzklasse waren (lacht). Ich hatte das Gefühl, dass ich einen etwas ernsteren Weg einschlagen sollte. Und dann verliebte ich mich in John Coltrane und Miles Davis, Elvin Jones, Art Blakey und Tony Williams und diese Musiker. Als ich dann auf dem College Jazz studierte, hatte ich die Gelegenheit, mit vielen großartigen Musikern und Musikerinnen aus dieser Welt zu spielen. Das hat meine Entscheidungen beeinflusst, und so kam ich sehr schnell zur elektronischen Musik, zur westafrikanischen Folklore und zum Flamenco.
Als ich anfing zu reisen, war mein erster professioneller Auftritt mit dem Bassisten Avishai Cohen, gleich als ich das Studium beendet hatte. Ich war etwa sechs Jahre lang mit ihm zusammen, wir haben fünf oder sechs Alben aufgenommen und ich habe so viel gelernt, vor allem mit unseren Reisen. Es ist etwas ganz anderes, in einen Plattenladen in New Jersey zu gehen und eine Flamenco-CD von Paco de Lucia zu kaufen, als in Madrid zu sein und diese Energie zu erleben. Avishai führte mich in diese Welt ein, er spielte unter anderem mit Chick Corea und ich begann, so viele neue Leute kennenzulernen, von ihnen zu lernen und die traditionelle Musik verschiedener Länder aufzunehmen.
Dadurch entstehen wiederum auch neue Einflüsse, oder?
Ganz genau. Für mich ist es wichtig, die Einflüsse miteinander interagieren zu lassen. Die Art und Weise, wie sie miteinander reden können, kann etwas noch Spannenderes schaffen. In meinem Kopf gibt es einen Pub, in dem alle meine Helden zusammen abhängen. Bob Marley spricht mit Kurt Cobain, John Coltrane spricht mit Paco de Lucia, Aphex Twin spricht mit Bach (lacht). Es ist für mich sehr aufregend, mir vorzustellen, was bei einem Gespräch mit solchen Leuten herauskommen würde.
Der beste Beweis für diese Gespräche ist wahrscheinlich dein neues Album MARK...
Ja! Es gibt einen Song mit dem Titel Hero Soup. Ich koche einfach ständig eine Suppe aus all diesen Zutaten und Helden und schaue, was dabei herauskommen kann.
In meinem Kopf gibt es einen Pub, in dem alle meine Helden zusammen abhängen. Bob Marley spricht mit Kurt Cobain, John Coltrane spricht mit Paco de Lucia, Aphex Twin spricht mit Bach.
MARK ist dein erstes komplettes Soloalbum. Warum kam es erst jetzt dazu?
Mir ist das davor nie in den Sinn gekommen. Ich habe angefangen, Musik zu machen, um mit anderen Musikern und Musikerinnen zu spielen. Das ist es, was mir am meisten Freude bereitet — die Interaktion, vor allem in improvisierten Situationen und die Energie, die hin und her fließen kann und die unerwarteten Wendungen, die die Musik nehmen kann. Ich habe auch nie wirklich andere Instrumente gespielt, ich war Schlagzeuger. Ich schreibe meine Musik auf dem Klavier, aber ich würde mich nie trauen, vor anderen Leuten Klavier zu spielen. Doch im Laufe der Jahre wuchs mein Selbstvertrauen am Klavier sowie im Komponieren und auch die Fähigkeit, Platten zu produzieren und Sounds im Studio zu kreieren… bis zu dem Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, dass ich alleine etwas von Anfang bis Ende kreieren kann und bin nicht von anderen abhängig. Ich sah es als eine Herausforderung, um zu sehen, was ich machen kann, wenn ich allein bin. Und das ist das Ergebnis.
Wie hast du dich in dieser Führungsrolle des Gesamtprojekts gefühlt?
Wenn ich zu viel darüber nachgedacht habe, konnte es mir Angst machen. Also habe ich versucht, mich einfach zu entspannen und weiterzumachen. Ich habe im Dezember letzten Jahres meine erste Soloshow gespielt, und das war etwas beängstigend für mich, aber auf eine gute Art. Ich werde nur sehr selten nervös, bevor ich spiele. Ich habe das Glück, so viele Erfahrungen gemacht zu haben, und ich habe über die Jahre Selbstvertrauen aufgebaut. Deshalb fühle ich mich normalerweise gut, wenn ich die Bühne betrete, und es war sehr erfrischend, vor meinem ersten Soloauftritt extrem nervös zu sein. Ich fühlte mich tatsächlich lebendig!
Was war die zentrale Idee hinter dem Album? Es ist offensichtlich ein sehr persönliches Projekt...
Diese Platte ist für mich... Ich schaue in den Spiegel und das ist, was ich sehe, zumindest in diesem Moment. Es geht viel um die Frage: Wer bin ich? Der erste Song, zum Beispiel, ist im Grunde ein Gespräch zwischen zwei Versionen von mir selbst. Die eine Version sagt, dass sie nach Antworten sucht, und die andere — weisere — Version sagt der ersten, sie solle sich nicht um Antworten kümmern, sondern sich auf die Fragen konzentrieren. Das ist eine der Lektionen, die ich in letzter Zeit gelernt habe. Wir neigen dazu, uns an unsere Antworten zu klammern und manchmal sind wir nicht bereit, die Antworten in Frage zu stellen oder sie zu überdenken. Ich habe festgestellt, dass ich im Leben glücklicher bin, wenn ich mich auf die Fragen konzentriere und es zulasse, dass sich die Antworten ein wenig ändern, wenn sich die Dinge wenden. Vielleicht ändern sie sich manchmal drastisch, manchmal nur geringfügig, aber es ist viel entspannter, wenn ich die richtigen Fragen finde, die ich immer wieder stellen kann, und mir nicht so viele Gedanken über die Antworten mache. Etwa: Was ist das Wichtigste im Leben? Die Antwort kann sich ändern, aber es ist eine sehr hilfreiche Frage, die mich motiviert.
Das Album ist das musikalische Ergebnis davon, dass ich Fragen stelle und manchmal von den Antworten überrascht bin. Vieles ist aus Improvisationen entstanden. Viele der Songs wurden sogar ohne Schlagzeug komponiert, wie zum Beispiel Kamakura, Costello, Alone oder Peace, please. Diese Songs habe ich am Klavier geschrieben und da ich mit diesem Instrument nicht so gut improvisieren kann, spiele ich sie eigentlich immer gleich. Aber die Stücke, bei denen das Schlagzeug im Mittelpunkt steht, kamen aus Improvisationen im Studio zu Stande, und sie waren das Ergebnis auf meine Fragen. Mein 25-jähriges Ego brauchte immer eine wirklich starke Antwort. Jetzt bin ich weniger an der Antwort interessiert und konzentriere mich mehr auf die richtige Frage.
Würdest du sagen, dass sich dein neues Album stark von deinen alten unterscheidet?
In gewisser Weise ist es im Großen und Ganzen genau dasselbe, was meinen Ausdruck in diesem Moment angeht. Bei jeder Platte könnte man sagen,es sei das Dokument dieses Moments. Aber technisch gesehen ist es in den Details ganz anders, das liegt vor allem daran, dass ich alles selbst eingespielt habe. Normalerweise bin ich also auf die Inspiration der anderen Musiker und Musikerinnen und das Zusammenspiel angewiesen. Ohne diese Beteiligung musste ich etwas tiefer in mich gehen.
Bist du dabei trotzdem in den künstlerischen Austausch mit anderen Leuten gegangen?
Nun, ich habe das große Glück, mit einer fantastischen Musikerin zusammenzuleben. Meine Frau Gretchen (Parlato) ist fantastisch, und wir tauschen ständig Ideen aus, obwohl ich mir sicher bin, dass sie es satt hat, immer die gleichen 50 verschiedenen Versionen des gleichen Songs zu hören... Gerade sitze ich in einem kleinen Studio außerhalb unseres Hauses, aber unser Klavier steht im Haus. Und selbst wenn wir an Ideen arbeiten, hören wir uns immer die neuen Sachen des anderen an und sprechen darüber. Ende letzten Jahres war ich auch auf Tournee mit meinem Quartett und das war sehr hilfreich. Ich habe einige der Songs mitgebracht, um dem Repertoire etwas neues Leben einzuhauchen, wobei wir Songs wie Alone, Costello und Peace, please gespielt haben und es war jeden Abend aufregend, ihre Interpretationen zu hören. Aber als die Aufnahmen begannen, hatte ich die Grundidee schon, ich habe sie nur noch umgesetzt.
Wie war es, im legendären Studio 606 der Foo Fighters aufzunehmen?
Es war unglaublich, dort zu sein. Die ersten Proben mit St. Vincent fanden im Jahr 2021 im Studio 606 statt und sie hat das gleiche Management wie die Foo Fighters. Es ist mit vielen Erinnerungsstücken und tonnenweise Instrumenten und all diesen Dingen ausgestattet. Ich habe die Jungs damals kennengelernt und seitdem ein paar Aufnahmen dort gemacht, und ich dachte einfach, dass es ein lustiger Ort sein würde. Es ist ein wirklich großer Raum, so dass ich alle Instrumente aufstellen,einfach meiner Intuition folgen und mich an verschiedene Stellen setzen und Sachen ausprobieren konnte. Also ja, es war definitiv kein Zufall, dass ich es dort gemacht habe. Es gibt eine Menge guter Energie an diesem Ort.
Mein 25-jähriges Ego brauchte immer eine wirklich starke Antwort. Jetzt bin ich weniger an der Antwort interessiert und konzentriere mich mehr auf die richtige Frage.
In deiner Karriere hast du neben St. Vincent auch mit anderen großen Namen wie Brad Mehldau, Avishai Cohen oder sogar David Bowie auf seinem letzten Album zusammengearbeitet. Was hast du aus diesen Kollaborationen am meisten gelernt?
Mit David (Bowie) habe ich so viele tolle Erinnerungen an diese Erfahrung. Aber wenn ich eine spezielle Sache erzählen müsste, dann waren es — neben tausenden anderen — zwei besondere Eigenschaften, die er hatte, die auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen zu scheinen, doch er hatte sie beide. Zum einen hatte er eine unglaublich klare Vision und wusste, was er wollte, aber gleichzeitig war er auch unglaublich offen für die Ideen anderer. Ich versuche immer, das als Erinnerung daran zu nehmen, dass beides nebeneinander existieren kann und wenn das der Fall ist, kann das zu wirklich aufregenden musikalischen Ergebnissen führen.
Und dann ist da natürlich noch Brad (Mehldau), er ist einer meiner Helden. Lange bevor ich die Gelegenheit hatte, mit ihm zu spielen, war ich ein großer Fan und bin es immer noch. Es war wirklich aufregend, mit ihm arbeiten zu können. Es ging nicht nur darum, mit ihm zu spielen, sondern es entwickelte sich eine großartige Freundschaft. Dieses Jahr ist es zehn Jahre her, dass unser Album — Mehliana — veröffentlicht wurde, und ich schreibe ihm immer wieder, dass wir wenigstens eine Show zum Jubiläum spielen sollten. Er ist wirklich einer meiner Lieblingsmusiker und ich hoffe, wir können noch viel zusammen machen.