Editor's Picks

Rückblick — Neue Musik im Sommer 2024

Verpassen Sie nicht die besten Musik-Neuerscheinungen aus allen Genres, jeden Monat von unserer Qobuz-Redaktion für Sie zusammengestellt.

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Blues, Country, Folk

Egal ob Sie Ihren Sommerurlaub dieses Jahr am Meer oder in denBergen verbracht haben, musikalisch standen wir unter dem wolkenlosen Himmel des neuen Albums Passage Du Desir von Sturgill Simpson, der jetzt unter dem Namen Johnny Blue Skies auftritt und dessen Musik sich mit geschickten Arrangements dem aktuellen Zeitgeist und Pop-Horizont öffnet. Eine weitere schöne Sommerüberraschung war Ray LaMontagne mit Long Way Home, das retro, aber nicht zu retro ist, und im kratzigen Soul-Folk-Flanell gekleidet daherkommt. Wenn Sie Soul mögen, sollten Sie unbedingt das treffend benannte Leisure von Quinn Deveaux anhören: ein Konzentrat aus guten Country-Soul-Vibes, die zwischen Nashville, Memphis und New Orleans gesammelt wurden.

Außerdem sollte Sie den Neo-Trad-Bluesman Jontavious Willis nicht verpassen, dessen West Georgia Blues gleichzeitig sehr traditionsbewusst und frisch ist sowie die neuen Alben von Jake Xerxes Fussell (When I’m Called) und Gillian Welch & David Rawlings (Woodland). Einen bittersüßen Rückblick gab es von Justin Townes Earle, der 2020 starb und dessen Compilation All In seltene und unverzichtbare Stücke enthält.

Klassik

Von einer ruhigen Sommerpause können wir in der Klassikwelt weniger sprechen. Im Juli konnten wir zwei der größten Sopranistinnen der Gegenwart, Nadine Sierra und Pretty Yende, zusammen in einem wunderschönen Duett erleben, begleitet vom Orchester der Frivolités Parisiennes. Das Anfang 2023 aufgenommene Album zeigt ihre stimmlichen Fähigkeiten und wird in der digitalen Version um fünf atemberaubende Titel aus der Filmwelt (As time goes, Moon River oder Over the Rainbow...) erweitert. Cineastisch geht es mit dem großen japanischen Komponisten und Dirigenten Joe Hisaishi weiter. Berühmt für seine Filmmusik der Studio Ghibli-Filme zeigt sich der Maestro auf Joe Hisaishi in Vienna von seiner romanisch-minimalistischen Seite und präsentiert seine Werke Symphony No. 2 sowie Viola Saga, zusammen mit dem Solisten Antoine Tamestit und den Wiener Symphonikern. Und auch unsere letzte Neuentdeckung an der Violine aus Singapur, Chloe Chua, beschert uns mit einem fabelhaften und gewagtem Programm, das aus einem Mix aus ihrer Heimat und der europäischen Tradition besticht: Das chinesische Meisterwerk Butterfly Lovers von Chen Gang und He Zhanhao sowie Paganinis Violin Concerto No. 1.

Emotionaler Höhepunkt des Sommers ist unumstritten das posthume Album des 2023 verstorbenen Ryuichi Sakamoto. Für ein letztes Konzert - ohne Zuschauer - nahm der japanische Komponist sein testamentarisches Album Opus auf, das aus 20 neoklassischen Klavierballaden aus seiner unglaublichen Karriere besteht, um die musikalische Welt mit seinen Fans ein letztes Mal zu teilen. Ein weiteres Highlight der Neoklassik ist das neue Album Solos des amerikanischen Komponisten Bryce Dessner mit hochkarätigen Gästen, darunter Katja Labèque, Anastasia Kobekina und Colin Currie. Unter den Maestros diesen Monats gibt es aber vor allem eine Maestra, die besonders heraussticht: Joana Mallwitz, die ihre erste Saison als Chefdirigentin des Berliner Konzerthauses mehr als erfolgreich vollendete, veröffentlichte ihre erste Aufnahme bei der Deutschen Grammophon, die Kurt Weills Symphonien gewidmet ist. Herausragend!

Weitere Aufnahmen des Sommers, die wir Ihnen ans Herz legen möchten: das britische Ensemble La Serenissima und sein Gründer Adrian Chandler mit Vivaldi², einer Sammlung von Vivaldi-Konzerten für zwei Instrumente; Wunderkind Klaus Mäkelä am Pult der Osloer Philharmoniker meldet sich eindrucksvoll zurück und eröffnet nach seiner Sibelius-Gesamtaufnahme einen neuen Schostakowitsch-Zyklus; Hervé Niquet und sein Ensemble Concert Spirituel mit einer intimen Version von Faurés Requiem sowie die beiden Solistinnen Isata Kanneh-Mason am Klavier mit ihre Hommage an Fanny-Hensel Mendelssohn (Mendelssohn) und Mari Samuelsen an der Violine mit LIFE.

Electronic Music

Anfang Juli veröffentlichten Kiasmos, das Duo bestehend aus dem in Reykjavik ansässigen färöischen DJ und Produzenten Janus Rasmussen und dem isländischen Allround-Musiker Ólafur Arnalds, endlich ihr zweites Album, II - ein neues, wunderschönes Projekt mit melodischem Techno. Eine weitere, eher unerwartete Kollaboration war James Blake, der mit Lil Yachty eine barocke EP namens Bad Cameo veröffentlichte, die einen Spalt zum Hyperrap öffnete. Der deutsche Produzent Alva Noto, der mit dem verstorbenen Ryūichi Sakamoto zusammenarbeitete, präsentiert uns eine Fortsetzung seiner HYbr:ID-Serie, “meditative Klanglandschaften, die vom Noh inspiriert sind”, und der amerikanische Produzent Jeff Mills, der auf The Eye Witness Traumata und ihre Folgen erforscht, schuf ein Album, das “als Inspiration für ein Gegengift zum Schutz unserer geistigen Gesundheit” gedacht ist.

Eine Platte, die etwas eingänglicher ist, ist Mobius Morphosis von JB Dunckel von Air. Für den Dancefloor empfiehlt sich aber eher die DJ-Kicks-Compilation des Australiers DJ Boring, der einen gelehrten und zugleich funky Mix zusammengestellt hat oder die Compilation Vintage Deep House von Heist Recordings, die ihrem Namen mehr als gerecht wird und Stilübungen rund um den Deep House der frühen 90′er Jahre destilliert, der wieder modern geworden ist und dessen Grooves immer noch unwiderstehlich sind, vor allem mit einem massiven Mastering wie hier. Erwähnenswert ist auch das Album Total Blue des gleichnamigen Trios aus Los Angeles, das mit diesem Album zwischen Ambient, Exotica und etwas mystischem House den Soundtrack für einen Ausflug entlang der kalifornischen Strände liefert. Wenn Sie dem Hype ein wenig voraus sein wollen, sollten Sie sich Julia-Sophies Album forgive too slow anhören, einen packenden und intensiven elektronischen Pop-Rock, der bereits bei Pitchfork auf Begeisterung stieß.

Rock & Alternativ

Während der Hitzewelle hatte der amerikanische Songwriter Bill Callahan die großartige Idee, uns mit Resuscitate! in die kühle Dunkelheit zu verbannen, ein erhabenes Live-Konzert, in dem sein neuestes Werk YTI⅃AƎЯ Jazzklänge annimmt. Die Avantgardistin Laurie Anderson erzählt in dem bewegenden Werk Amelia Earhart vom letzten Flug der Fliegerin Amelia. Die bei Nonesuch erschienene Filmversion ihres im Jahr 2000 uraufgeführten Orchesterstücks besticht durch ein atemberaubendes Mastering.

Die verrückten Australier King Gizzard & The Lizard Wizard haben endlich eine Classic-Rock-Platte herausgebracht. Jack White setzt mit No Name, einer Rückkehr zur Blues-Essenz der White Stripes, wieder auf seine erfolgreichen Riffs und die Iren von Fontaines D.C. setzten ihren unaufhaltbaren Aufstieg fort, indem sie auf Romance ihrer Post-Punk-Formel der Romantik Platz lassen.

Bei den Neuentdeckungen sollte man sich das vielversprechende The Future Is Our Way Out des Chicagoer Quintetts Brigitte Calls Me Baby anhören, das den Smiths wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Außerdem sollte man sich die Streaming-Veröffentlichung der Acoustic Hits von The Cure und die Neuauflage des mysteriösen The Moon and the Melodies des Ambient-Pianisten Harold Budd und Robin Guthrie von den Cocteau Twins nicht entgehen lassen. Den krönenden Abschluss bildet Wild God, die direkte Fortsetzung des himmlischen Ghosteen, in dem Nick Cave sein Glück gefunden hat. Der ehemalige Fürst der Finsternis strahlt inmitten der Chöre und wendet sich doch noch dem Licht zu.

Jazz

In der Fülle der Veröffentlichungen, die für diesen Sommer geplant waren, stechen zwei Alben hervor, die in puncto Ehrgeiz und Qualität die Messlatte sehr hoch ansetzen: No More Water: The Gospel of James Baldwin von Meshell Ndegeocello, in dem sich die afroamerikanische Sängerin, Bassistin und Produzentin in das facettenreiche Werk des schwarzen, homosexuellen amerikanischen Schriftstellers James Baldwin hineinversetzt, um ihre eigene Identität zu hinterfragen, sowie Milton + esperanza, eine meisterhafte Zusammenarbeit zwischen dem legendären Milton Nascimento und der Bassistin, Sängerin und Komponistin Esperanza Spalding, die die Wahlverwandtschaft zwischen Jazz und brasilianischen Traditionen erneut aufleben lässt. Auch Gitarrist Pat Metheny und Schlagzeuger Mark Guiliana präsentierten ihre herausragenden Soloprojekte: Ersterer schafft mit MoonDial eine intime und zutiefst schwermütiges Album, wohingegen Guiliana am Steuer eines kleinen virtuellen Orchesters, das aus den unterschiedlichsten Instrumenten besteht, mit MARK ein unglaublich experimentelles und definitiv einzigartiges Universum erfindet.

Tigran Hamasyans neues Projekt The Bird of a Thousand Voices widersetzt sich ebenfalls jeder Kategorisierung. Es erscheint wie eine Art poetisches und politisches Manifest, in dem der armenische Pianist und Komponist eine vibrierende und sehr persönliche Hommage an den kulturellen Reichtum seines Landes darstellt. In einer hybriden Ästhetik, die modernen Jazz mit lateinamerikanischen Traditionen verbindet, schafft der aus Puerto Rico stammende Saxophonist und Komponist Miguel Zenón mit Golden City ein großartiges Orchesterfresko, das die verschiedenen Einwanderungswellen feiert, die San Francisco seine Identität verliehen haben. Ebenso berauschend und orchestral ambitioniert ist Twentyfour, das dem virtuosen Gitarristen Al Di Meola die Gelegenheit bietet, in 15 Stücken alle Dimensionen seines barocken und “fusionierten” Stils zu erkunden. Und auch Deutschlands “coolster” Schlagzeuger Wolfgang Haffner bietet auf Life Rhythm mit seinem Quintett eine wahre Rhythmus-Fiesta.

Die große britische Sängerin Norma Winstone und der Pianist Kit Downes präsentieren in Outpost of Dreams einen sehr verinnerlichten Kammerjazz, der in raffinierte Traumstimmungen entführt. Zwei weitere außergewöhnliche Dokumente sind außerdem Sun Ras Album mit unveröffentlichten Aufnahmen von Walt Disney-Filmthemen (Pink Elephants on Parade) und die erste Ausgabe des letzten Konzerts, das der geniale Trompeter Louis Armstrong im Juli 1968 in den Londoner BBC-Studios gab. Last but not least enthältltCelebration Vol.1 ein außergewöhnliches, bisher unveröffentlichtes Konzerts des berühmten Wayne Shorter Quartetts in Stockholm aus dem Jahr 2014, das den Auftakt zu einer Reihe von Dokumenten bildet, die der Saxophonist selbst im Jahr vor seinem Tod für eine posthume Veröffentlichung ausgewählt hat.

Metal & Hard Rock

Der Sommer 2024 war in manchen Teilen Europas nicht der sonnigste der Schöpfung. Eine zeitweise regnerische Stimmung, die den hexagonalen Schwarzmetallern von Seth in die Hände spielte. La France des Maudits, ein Werk, das nach Guillotine und Revolution riecht, bereitete irgendwie den Boden für die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele vor, bevor Gojira auftraten. Deep Purple weigerten sich ihrerseits, alt zu werden. Ihr =1 ist das erste Album, das sie mit ihrem neuen Gitarristen Simon McBride aufgenommen haben, und es scheint, dass sie an die echten Vibrationen von früher anknüpfen. Orange Goblin sind zwar jünger als Deep Purple, aber mit fast 30 Jahren immer noch ein Fan von Vintage- und Stoner-Sounds, was sie auf Science, Not Fiction beweisen.

Wenn Sie Ihrem Sommer lieber einen bluesigen Seventies-Touch verleihen möchten, sollten Sie sich das neue Album von Blues Pills anschauen. Birthday hat alles, was man braucht, um wieder in diese gesegnete Zeit einzutauchen. Die Anhänger des Progressiven werden mit Spannung auf Leprous’ Melodies of Atonement gewartet haben. Die norwegische Band beweist wieder einmal, wie harte Gesangsparts zu meistern sind und die Balance zwischen Gitarren und Synthesizerklängen zu halten. Und schließlich, weil Zeal & Ardor nichts wie die anderen machen, haben sie dieses Mal beschlossen, eine Platte abzuliefern, die als Hybrid bezeichnet wird und auf der mehr Musiker als üblich zu hören sind. Greif beherbergt sowohl sanftere Klänge als auch alternative Stimmungen und weniger Black Metal. Aber was für ein Erfolg, wieder einmal.

Rap

Diesen Sommer durften wir wohl eines der größten Rap-Comebacks erleben: Eminem rüttelte die Welt mit The Death of Slim Shady wach, auf dem er selbst sein skandalöses Alter Ego umbringt, das ihm zu Beginn seiner Karriere vor fast dreißig Jahren zu Ruhm verhalf. Ein weiteres Highlight war Donald Glover, der mit seinem sechsten Album Bando Stone and The New World die Karriere seines musikalischen Alter Egos Childish Gambino beendet. Für die Fans des Golden Age des US-Hip-Hop ist die Nachricht des Sommers die Wiedervereinigung zweier Mythen: des Rappers Common und des Beatmakers Pete Rock auf The Auditorium, dem ersten Teil einer Serie, von der man sich wünscht, dass sie schnell fortgesetzt wird. Der König der Könige Rakim kehrt zurück und vergnügt sich mit einer sintflutartigen Gästeliste auf G.O.Ds Network - Reb7rth. Ein weiterer Boss des US-Rapgames ist Denzel Curry, der sich auf King of the Mischievous South Vol. 2 mit einem Cast umgibt, der es in sich hat (A$ap Ferg, Ty Dolla $ign, Ski Mask The Slump God, A$AP Rocky...), was die neue Platte zu einem kollektiven Album macht. Abschließend sollte Sie nicht die australische Rapperin Elsy Wameyo verpassen, die mit Saint Sinner ein scharfes und gleichzeitig lyrisches Album vorlegte.