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Interview — Daniil Trifonov: (S)eine amerikanische Geschichte, Teil 1

Im Gespräch mit dem russischen Starpianisten über den ersten Teil seines bisher persönlichstes Albums “My American Story: North”, welches seine musikalische Lebensgeschichte in der “Neuen Welt” nachzeichnet.

Daniil Trifonov spielt in der obersten Spitzenklasse der internationalen Pianisten. 2010 und 2011, mit kaum einmal 20 Jahren, versetzte der russische Virtuose die gesamte Klassikwelt in Aufruhr, als er innerhalb weniger Wochen die höchsten Auszeichnungen der wichtigsten Musikwettbewerben der Welt einholte (darunter der dritte Platz auf dem Chopin-Wettbewerbs in Moskau sowie der jeweils erste Platz auf dem Arthur-Rubinstein-Wettbewerbs in Tel Aviv und dem Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau). Es folgten Welttourneen, Recitals und Kooperationen mit den wichtigsten Akteuren der Klassikwelt — Größen wie Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter und Alfred Brendel gehören zu seinen bekennenden Verehrern und Mentoren — sowie ein Exklusivvertrag bei der Deutschen Grammophon.

Aufgewachsen in Russland und geprägt von den “üblichen” Komponisten einer Pianistenlaufbahn, scheint es daher nicht verwunderlich, dass seine ersten Aufnahmen sich großteils dem russischen und europäischen Repertoire der Romantik widmen. Mit der Live-Einspielung The Carnegie Recital (2013) und schließlich seinem ersten Studioalbum Rachmaninov Variations (2015) setzte Trifonov neue Maßstäbe, dicht gefolgt von regelmäßig erschienenen Alben der großen Komponisten wie Rachmaninow, Tschaikowsky, Skrjabin, Chopin und Liszt. Letztes Jahr setzte Daniil Trifonov sich darüber hinaus mit BACH: The Art of Life grundlegend mit dem Werk von J.S. Bach und seinen Söhnen auseinander.

Es erfreut daher umso mehr, dass sein neues Projekt My American Story eine sehr persönliche Seite und neue Herangehensweise von Daniil Trifonov zeigt. Aufgeteilt in ein North- und South-Album, widmet sich der Pianist auf dem ersten Teil seiner eigenen - nordamerikanischen - Lebensgeschichte mit seinen ganz persönlichen Lieblingsstücken:

“Es handelt sich um zwei große Kontinente, Nord- und Südamerika, und es gibt eine Menge großartiger Musik, die in beiden geschrieben wurde. Der erste Teil “North” ist wie eine breite Landschaft aus meinen Erfahrungen in den Vereinigten Staaten. Und später folgt der zweite Teil “South” — meine Frau ist Dominikanerin, es gibt also eine Menge lateinamerikanischer Musik, die ich ebenfalls einbeziehen wollte. Das ganze Programm konzentriert sich natürlich auf das Klavier. Ich wollte keine Orchestertranskriptionen oder Ähnliches. Ich wollte sehen, wie das Klavier als Instrument in verschiedenen Genres eingesetzt wird. Es gibt verschiedene Stile und Genres, wie beispielsweise Minimal Music oder Film-Soundtracks. Es ist eine Art Erkunden der Musik aus diesen beiden Regionen.”

Erster Kontakt mit der “Neuen Welt”

Trifonov zog 2009 von Russland in die Vereinigten Staaten, um bei Sergei Babayan am Cleveland Institute of Music zu studieren — übrigens genau zu der Zeit, als er sich auf die großen Musikwettbewerbe vorbereitete. Hier erstand der erste Kontakt mit der US-amerikanischen Kultur und ihren reichhaltigen musikalischen Traditionen, an die sich heute Trifonov noch erinnert:

“Es gab natürlich eine Menge Musik aus Nord- und Südamerika, die ich damals in Cleveland zum ersten Mal entdeckt habe. Zum Beispiel die Musik von Art Tatum. Er wurde nicht weit von Cleveland geboren und begann seine Karriere im Grunde genommen dort, er ist also so etwas wie der ganze “Stolz” der Stadt. Und zufällig übte ich gerade die Musik von Chopin für den Chopin-Wettbewerb. Er hat diese Art von sehr flüssigem und fließendem Spiel, von dem man viel lernen kann — genauso wie Horowitz. Horowitz und Art Tatum, diese beiden Pianisten haben diese Art von extremer Fluidität, die für Chopin großartig ist. Es gibt sogar einen Chopin-Walzer von Art Tatum, seine eigene Art von Jazz-Improvisation über ihn.”

Von Klaviermusik, Jazz und Swing bis hin zu Minimal Music und bekannten Soundtracks — das Repertoire auf My American Story: North präsentiert uns eine enorme Breite von unterschiedlichsten Stilen und Komponisten aus den Vereinigten Staaten, zu denen Trifonov eine persönliche Verbindung hat. Bereits in den letzten Jahren tourte er mit seinem Konzertprogramm Decades, auf dem er eine Auswahl von Stücken des 20. Jahrhundert vorstellt, darunter Aaron Coplands, John Adams und John Coriglianos — alle drei Komponisten sind auch auf dem Album vertreten. Es sollte aber schließlich das für ihn in Auftrag gegebene Mason Bates Klavierkonzert sein, das den Startschuss für den ersten Teil dieses Amerika-Projekts gab: “Ich wollte dieses Projekt machen, und dann wollte Mason Bates ein Konzert für mich schreiben - also wartete ich ungefähr ein bis zwei Jahre, und als ich es erhielt, habe ich sofort angefange, es zu lernen. Es ist großartige Musik und eines meiner Lieblingsstücke auf dem Album!”

Zusammen mit dem Klavierkonzert von George Gershwin bildet das Concerto von Mason Bates gleichzeitig den Rahmen und das Herzstück des Albums. Beide Stücke liegen fast ein ganzes Jahrhundert auseinander (1925 und 2022), ergeben jedoch eine einzigartige und reizvolle Synthese aus Jazz-, Film- und klassischen Elementen. Als Teenager in Moskau hörte der junge Trifonov Gershwins unerschrockenes Concerto in F zum ersten Mal und verspürte sofort den Wunsch, es eines Tages selbst zu spielen. Als Zeitgenosse von Art Tatum gelang es Gershwin, die Motive und Grooves des amerikanischen Jazz in die klassische Musik zu übertragen. Ähnlich gelingt es auch Mason Bates, verschiedene Stile in seinem Konzert zu verbinden:

“Es sind natürlich zwei sehr unterschiedliche Werke. Das Bates-Konzert hat beispielsweise im ersten Satz Neo-Renaissance-Elemente und im dritten Satz ist es sehr cineastisch angelegt. Es wirkt wie eine Verfolgungsjagd durch Chicago in einem Schwarz-Weiß-Film!”, berichtet er uns begeistert. “Aber abgesehen davon, dass sie beide am gleichen Ort geschrieben wurden, spielt der Einsatz des Orchesters eine zentrale Rolle. Beide Konzerte sind meisterhaft instrumentiert und erfordern ein sehr virtuoses Spiel des Orchesters. Zum Beispiel ist der zweite Satz von Gershwin extrem schwierig zu spielen, man braucht großartige Solisten, wie für das große Trompetensolo. Generell müssen die Orchester in beiden Stücken sehr gut aufeinander abgestimmt sein.”

Von der Klassik zum Swing

Große Namen der Romantik wie Rachmaninov, Prokofiev, Schubert und Chopin werden gegen Ikonen des Jazz wie Aaron Copland, Art Tatum oder Bill Evans ausgetauscht. Aufgewachsen in der russischen Tradition ist es daher nicht selbstverständlich, die Techniken, Riffs und den Swing der amerikanischen Musik auf das Klavierspiel zu übertragen, selbst für einen Virtuosen wie Trifonov: “Es hat viel mit Timing zu tun. Es gibt eine Art von Phrasierung, die unabhängig von der Zeit ist. Während in der klassischen Musik Phrasierung sehr oft mit Timing verbunden wird, ist es in diesem Fall voneinander getrennt. Das war eines der Dinge, die für mich völlig neu waren”, erklärt er uns. “Ich musste mich beim Üben mehrfach aufnehmen. Erst in der Perspektive einer dritten Person gelang es mir, die Musik und Rhythmen richtig wahrzunehmen.”

Ein perfektes Beispiel hierfür ist Trifonovs Transkription von Art Tatums I Cover the Waterfront — der Opener des Albums —, die er selbst nach Gehört anfertigte. Das Stück wirkt beim Hören wie eine improvisierte und “kinderleichte” Jazznummer, fußt aber tatsächlich auf enormer Präzision und höchster Struktur: “Bei der Transkription habe ich die Aufnahme von Tatum im Grunde verlangsamt und dabei ist mir aufgefallen, dass es voll und ganz durchkalkuliert ist. In der rechten Hand gibt es sehr schnelle und perfekte 16tel-Noten in Vierergruppen, die linke Hand ist dabei immer etwas versetzt. Das ist alles andere als zufällig und sehr strukturiert, auch wenn es nach Improvisation klingt.”

Zwei weitere Genres, die auf dem Album behandelt werden, sind berühmte Film-Soundtracks und Minimal Music — beide Stile prägen die USA nicht weniger als Jazz und vervollständigen die musikalische Geschichte des Pianisten. Trifonov wählte hierbei die minimalistischen Werke China Gates von John Adams und John Coriglianos Fantasia on an Ostinato. Darüber hinaus wollte er Thomas Newman und Dave Grusin, “beides großartige Filmkomponisten”, unbedingt mit ihren sehr klavierlastigen Stücken aus den beiden Kultfilmen Die Firma (Memphis Stop) und American Beauty mit auf die Platte aufnehmen: “Newman hat viele Einflüsse aus der Minimal Music und Grusin vom Jazz, es ergänzt sich also sehr gut.”

Es fällt auf, dass die musikalisch breite Landschaft, die der russische Virtuose auf seiner amerikanischen Geschichte zeichnet, nicht selten mit ikonischen Städten der Vereinigten Staaten verbunden ist. Der Jazz aus Memphis, Soundtracks und Gangsterfilme aus Chicago, cineastische und klassische Musik aus New York und natürlich Cleveland — der Ort, wo alles seinen Anfang fand: “Interessanterweise lebte die Person, die Al Capone viele Jahre später gefasst hat, in Cleveland. Etwa zu der Zeit, als Art Tatum auch dort war. Und ein anderer Komponist aus Cleveland, Henry Mancini, hat “Pink Panther” und andere Soundtracks geschrieben. Ich selbst habe meine heutige Frau dort, in Little Italy, kennengelernt. Das ist einer der Gründe, warum es meine American Story ist.”

Auch wenn My American Story: North gerade erst erschienen ist, liegt uns natürlich dennoch die Frage auf der Zunge, wann der zweite Teil My American Story: South erscheinen wird und vor allem, was wir erwarten können? “Der erste Teil hat bereits circa vier Jahre in Anspruch genommen, ich brauche also noch etwas Zeit für den Nachfolger…” vertröstet uns Trifonov, aber fügt hinzu, dass auch parallel weitere “klassische” Alben folgen werden.

Übrigens: Sollte sich jemand fragen, warum auf einem “amerikanischen” Album nicht zentrale Namen wie Leonard Bernstein oder Philip Glass zu finden sind, so hat Daniil Trifonov eine klare Antwort parat: “Es ist meine amerikanische Geschichte, nicht die eines anderen. Falls Sie Bernstein hören wollen, können Sie ja selbst eine eigene aufnehmen.”