Panoramas

Igor Levit: Nehmen und Geben

Gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern haben der Pianist und Christian Thielemann die Brahms-Klavierkonzerte aufgenommen.

Wuchtig, düster und vergrübelt das eine, freundlich, licht und heiter das andere: Die Klavierkonzerte von Johannes Brahms sind Geschwister, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Das erste in der dramatischen Tonart d-Moll schrieb der damals noch ganz unbärtige Komponist im vorgerückten Jünglingsalter, das zweite, im zärtlichen B-Dur, folgte rund 20 Jahre später in den besten Mannesjahren – in einem Lebensalter, dem Igor Levit als Mitt- bis Enddreißiger ebenfalls immer näher rückt. Mit den Brahms-Konzerten ist der Klavierstar schon lange vertraut, und es war für ihn nur eine Frage der Zeit, sich auch diskografisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Die Großtat ist vollbracht, und groß ist nicht nur der Umfang der neuen Veröffentlichung bei Levits Exklusiv-Label, sondern sind auch die Namen, die neben dem des Pianisten zu lesen sind: Es handelt sich um die Wiener Philharmoniker und um Christian Thielemann.

Knappe zehn Jahre ist es her, dass der Pianist und der Dirigent durch den klassischsten aller Zufälle ihres Metiers zusammenfanden. Der Klavier-Solist eines Münchner Konzerts von Thielemann und seiner damaligen Dresdner Staatskapelle war ausgefallen und Igor Levit buchstäblich in letzter Sekunde für ihn eingesprungen. Das von beiden lang ersehnte Aufeinandertreffen im Jahr 2015 offenbarte sich als echtes Match. Beide Musiker stellten fest, dass sie eine gemeinsame musikalische Sprache sprechen, geradezu blind aufeinander reagieren können, der Spontaneität vor dem künstlich Einstudierten den Vorzug geben und sich in Tempofragen und klanglichen Vorstellungen mühelos verständigen. Eine Traumpartnerschaft, deren Fortführung jedoch ein paar Jahre warten musste – übervolle Terminkalender und eine unvorhergesehene Pandemie fordern nun mal Tribute.

Bei einem Treffen in Berlin gerieten Levit und Thielemann spazierengehender-weise ins Gespräch über Brahms und den Brahms-Zyklus, den der Dirigent zusammen mit den Wiener Philharmonikern realisieren wollte. “Und so kam dann eines zum anderen”, wie Levit im Rückblick auf das Brahms-Projekt feststellt. Für die erste Sitzung reiste er im Dezember 2023 nach Wien, wo die Aufnahmen im musikhistorisch so bedeutsamen Goldenen Saal im Wiener Konzertverein stattfanden. Zunächst stand das zweite Konzert auf dem Programm, ein Stück, an dem sich Igor Levit nicht “sattspielen” kann. “Das ist ein Stück, das gibt und gibt”, konstatiert er in einem Interview, das begleitend zur Einspielung entstand. Trotz der immensen technischen Schwierigkeiten, die Brahms dem Solisten, aber auch dem Orchester abverlangt und der schieren Länge von rund 50 im Dauereinsatz zu absolvierenden Minuten, gehe er jedes Mal gestärkt aus dieser Tour de Force hervor – ein Gefühl, das nicht nur andere Musiker, sondern auch Zuhörer mit ihm teilen.

Höchste Ansprüche an den Pianisten

Ein eher strapaziöses Liebesverhältnis wiederum verbindet Levit mit dem ersten Brahms-Konzert, das bei der nächsten Wiener Aufnahmesitzung im April 2024 in Angriff genommen wurde und laut Selbstaussage nicht nur technisch, sondern auch emotional und psychisch höchste Ansprüche an den Pianisten stellt – ein Stück, das “nimmt und nimmt”. “Unter Pianisten heißt es ja immer, das zweite Klavierkonzert sei so monströs schwer”, sagt Levit im Gespräch mit Thielemann, und das stimme auch. “Aber es ist bei aller Dramatik gewisser Stellen ein so positives Stück. Es entlässt dich in Schönheit. Ich finde dieses zweite Klavierkonzert unendlich viel einfacher zu spielen als das erste. Das erste ist oft bitter und finster. Da ist sehr viel Masse, die du bewegen musst.” Masse zu bewegen, ist für einen Marathon-Menschen wie Igor Levit allerdings das geringste Problem.

Ob bei den gesamten Beethoven-Sonaten 2019 oder anderen Projekten der vergangenen Jahre wie dem “Fantasia”-Album mit brutalen Schwergewichten wie der Liszt-Sonate und Busonis “Fantasia contrappuntistica” auf einer CD oder dem Henze-Wagner-Mahler-Koloss des 2022 erschienenen “Tristan”-Albums: Mit Appetithäppchen wird man bei ihm nicht abgespeist. Vor diesem Hintergrund darf es selbst im Fall von Johannes Brahms ein bisschen mehr sein, weswegen die neue Veröffentlichung nicht nur die beiden Klavierkonzerte enthält, sondern auch noch, als solistische Dreingabe zum ersten Programmteil, die späten Klavierstücke des Komponisten. Zu hören sind die vier Zyklen opp. 116 bis 119, in denen sich der sinfonische Berserker Brahms mit Fantasien, Intermezzi und ähnlich Miniaturhaftem von seiner lyrischen, zärtlichen, innerlichen Seite zeigt – mit Werken, die Igor Levit zum Allerschönsten rechnet, was die Musikgeschichte je hervorgebracht hat. Für ihn ist es ein Glücksfall, die unterschiedlichen Facetten seiner Persönlichkeit einmal in der auftrumpfenden Pianistik der Konzerte und dann im intimen Charakter der späten Solowerke im direkten Kontrast zu zeigen. Doch ein bisschen hat Christian Thielemann, im wahrsten Sinne des Wortes, auch hier seine Finger im Spiel: Als gemeinsame Zugabe spielen die beiden im Anschluss an die matt verhangenen Klavierstücke op. 119 den heiter gelösten As-Dur-Walzer op. 39/XV – und erbringen in vierhändiger Eintracht den Beweis, dass zur musikalischen Freundschaftspflege nichts weiter als eine geteilte Pianobank nötig ist.

*Beitrag aus dem rondomagazin.de 05/2024.