Deutsche Musik
Man weiß gar nicht, wo man diesen Monat anfangen soll, bei all den zahlreichen Veröffentlichungen, die in der deutschsprachigen Musiklandschaft — vom Ruhrgebiet bis hin in die tiefste Schweiz — zu finden sind. Vielleicht in Köln mit Fortuna Ehrenfeld, die gerade mal nach knapp einem Jahr ihr bescheiden betiteltes Album UNIVERSUM veröffentlichen. Auf ganzen 31 Tracks ahnt man bereits, dass der Halunke Martin Bechler und seine Band einiges zu sagen haben, das man auf keinen Fall verpassen sollte. Weiter geht es in die Hauptstadt zu Isolation Berlin, die mit ihrem neuen Label (Vertigo Berlin), Cover und Titel Electronic Babies kurz in die Irre führen, doch keine Sorge, beste Indie-Musik und tiefgründige Texte stehen auch hier noch im Zentrum. Genauso ausgefeilt, wenn nicht poetisch, ist sicherlich auch die neue Platte von Florian Paul & Die Kapelle der letzten Hoffnung, die mit Alles wird besser musikalisch an Faber erinnern oder aber auch das Poesie Projekt: Was ist Liebe von Schönherz & Fleer, die Herzschmerz und schönste Liebeerklärungen auf einmaligen Arrangements vertonen.
Eines der Highlights des Monats ist sicherlich auch das zweite Album des Sängers, Produzenten (und Schauspielers) Moritz Jahn, der auf Sei Nicht Fremd seine Indie-Pop-Musik hinter sich lässt und sich nun der elektronischen Musik, gepaart mit Technobeats und Saxophon-Melodien, hingibt. Weitaus ruhiger, dafür musikalische kein bisschen weniger komplex, können wir den Newcomer Berq auf seinem gleichnamigen Debütalbum entdecken, gefolgt von zwei festen Größen der Indieszene: Tonbandgerät mit Ein anderes Leben und einer der sympathischsten Schweizer überhaupt — Dagobert — der mit Dagobert und die wahre Musik vom südlichen Blütenland nicht zu viel verspricht. Und da dieser herbstliche Monat wirklich durch und durch vom Thema der Liebe geprägt ist, so präsentiert uns schließlich Deutschlands schönstes musikalisches Liebespaar Max Herre und Joy Denalane sein erstes gemeinsames Album des Gemeinschaftsprojekts Max&Joy, ALLES LIEBE.
Electronic Music
Der Oktober begann mit der Wiederveröffentlichung eines Mythos, dem Album Selected Ambient Works Volume II von Aphex Twin, dem ersten Auftritt des englischen Künstlers auf dem Label Warp im Jahr 1994, das dreißig Jahre später in einer erweiterten Version für eine unglaubliche Traumodyssee mit 27 Titeln präsentiert wurde. Ebenfalls in der Retrospektive: Cassius mit einem Best Of, das das Epos dieser Vorzeigegruppe des French Touch bis 2019 und dem Tod von Zdar erzählt. Am selben Tag feierte ein weiterer Veteran der französischen Elektronikszene sein Comeback: Agoria mit dem feel good-Album seiner Karriere, Unshadow.
Nicht verpassen sollten Sie auch Dreamstate der britischen Produzentin Kelly Lee Owens, die um das Konzept des Daydreaming herum komponiert und eine wunderschöne Platte zwischen Euphorie und Melancholie geschaffen hat. Zudem gab es eine Rückkehr des kanadischen Produzenten Caribou, der mit Honey ein 100%iges Dancefloor-Album, geschaffen hat , sowie die Weihe von Honey Dijon, die den letzten Band der DJ-Kicks-Compilation-Reihe zusteuert, für eine Hommage an den House der 90′s.
Jazz
Im Oktober gibt es einen starken Fokus auf den französischen Jazz. Die Hauptrolle spielt PianoForte, ein ebenso brillantes wie ehrgeiziges Gemeinschaftsprojekt von vier Starpianisten (Baptiste Trotignon, Pierre de Bethmann, Eric Legnini und Bojan Z), die sich auf dem Höhepunkt ihrer Musikalität befinden. Der Saxophonist Alban Darche und der klassische Kornettist Emmanuel Bénèche haben sich zusammengeschlossen, um mit ihrem Mirifique Orchestra eine inspirierende Neuinterpretation der Musik von Giuseppe Verdi (Verdi Remix) zu präsentieren. Danach folgt die nächste Generation, zunächst mit der ersten CD des “Schlagzeugers, von dem alle reden”, Gautier Garrigue, als Bandleader, mit einer anspruchsvollen und atmosphärischen Musik, die an das Label ECM erinnert (La Traversée).
Doch auch in Deutschland gibt es tolle Jazz-Erscheinungen. Der Nachwuchsstar am Klavier Simon Oslender veröffentlicht zusammen mit Steve Gadd und Will Lee sein neues Album All That Matters — eine beeindruckende und groovige Palette aus Jazz, Fusion und Rock. Wir gehen zum Saxophon, aber diesmal in die USA, und schauen uns Blues Blood genauer an, eine spannende und melancholische Wanderträumerei im Herzen der afroamerikanischen Erinnerung, die der aufstrebende Star des Labels Blue Note Immanuel Wilkins entworfen hat. Ein Besuch im Village Vanguard in New York mit Ben Wendel (Understory: Live at the Village Vanguard) und im New Morning in Paris mit Steve Colemans Five Elements (PolyTropos / Of Many Turns) zeigt einmal mehr, dass man Jazz am besten live am Ort des Geschehens genießt.
Ganze zwei Mal fällt der Name Avishai Cohen. Zuerst veröffentlicht der israelische Trompeter sein erschütterndes Ashes To Gold auf ECM, später folgt der Kontrabassist mit Brightlight, auf dem er die orchestrale Dimension seines Universums ausbaut, indem er sein Trio um ein Ensemble junger Musiker erweitert. Auch sollten Sie sich nicht das poetische und sehr eindringliche To Everything a Season von The Magic Lantern (Pseudonym des Singer-Songwriters Jamie Doe), das die Grenzen zwischen Folk, Jazz und zeitgenössischer klassischer Musik verwischt, entgehen lassen. Schließlich erscheint Grande-Terre von Roy Hargrove, ein bisher unveröffentlichtes Album, das vom Label Verve ausgegraben wurde und auf dem der afroamerikanische Trompeter zusammen mit einer All-Star-Band aus kubanischen, amerikanischen und guadeloupeischen Musikern einen wunderbaren Ausflug in die kreolische Kulturn unternimmt.
Blues, Country, Folk
Oktober 2024: Wir schreiben den ersten Monat ohne Kris Kristofferson in der Musikgeschichte. Der Sänger (und Schauspieler) starb Ende September im Alter von 88 Jahren, nachdem er einige große Kapitel im Roman des Americana geschrieben hatte. Doch die Geschichte ist nicht zu Ende und so konnten wir uns über den 83-jährigen Amerikaner Tucker Zimmerman alias “das bestgehütete Geheimnis des Folk” freuen. Sein Album Dance of Love ist eine Schatztruhe voll entspannter, zahmer Folkmusik.
In der Welt des Rock war die große Nachricht des Sommers die Ankündigung der Wiedervereinigung von Oasis, der Band der Gallagher-Brüder. In der Welt des Blues Rock ist es jedoch die Veröffentlichung der Aufnahmen von Rory Gallagher für die BBC, die für Aufsehen sorgt. Viel ruhiger, aber nicht weniger gut, sind zwei Folk-Blues-Veröffentlichungen, die in diesem Monat Aufmerksamkeit verdienen: das sehr retrolastige Things Done Changed von Jerron Paxton und das zeitlose In The Real World von Eric Bibb (dass in den Real World Studios aufgenommen wurde). Eines der absoluten Highlights ist zum Ende das dritte Album der amerikanischen Gitarristin (und Multiinstrumentalistin) Yasmin Williams. Mit ihren zahlreichen Gästen und ihren flinken Fingern vermischt sie verschiedenste Stile, geprägt von der instrumentalen Folkgitarre.
Rock & Alternative
Keine Frage, der Oktober beginnt wie so oft sehr stark. Zuerst veröffentlichten The Smile, die Supergroup aus Jonny Greenwood, Thom Yorke und Tom Skinner, ihre Riffs auf ihrer dritten Platte mit dem Titel Cutouts. Cutouts ist weit davon entfernt, eine Ansammlung von Studioresten zu sein, und hat seinen Platz in den Top-Alben des Jahres 2024 bereits weit oben reserviert. Zur gleichen Zeit erlaubte sich Geordie Greep eine Pause von seiner Band Black Midi mit dem riskanten Album The New Sound, einer explosiven ersten Soloplatte, die sorgfältig ausbalanciert ist und auf der Jazz, Art-Rock, Experimentalmusik und Bossa zu hören sind.
Mit einem wunderschönen Gemeinschaftsprojekt sind Andrew Bird und Madison Cummingham zurück, die eine gewagte (und gelungene!) Neuinterpretation von Buckingham Nicks präsentieren, das vor 40 Jahren von Stevie Nicks und Lindsey Buckingham veröffentlicht wurde. Darüber hinaus können wir uns über es ein paar Rock-Größen freuen: Eric Clapton überrascht uns mit Meanwhile, Tear For Fears veröffentlichen ihr Live-Album Songs For A Nervous Planet und die Pixies präsentieren The Night the Zombies Came passend zu Halloween.
Wer das Jahresende unter der Bettdecke verbringen möchte, sollte das sensible Patterns in Repeat, das die englische Folkmusikerin Laura Marling ihrer Tochter widmet, oder das neueste Werk von Jonah Yano mit nach Hause nehmen. Nach dem kollaborativen Portrait of Dog trifft sich der japanisch-kanadische Künstler mit einem Teil der Musiker von BadBadNotGood, um weitere chloroformierte Soul-Jazz-Abenteuer zu schreiben. Wer Herzklopfen bevorzugt, sollte stattdessen auf Porridge Radio setzen, das von Dana Margolin angeführte Quartett aus Brighton. Auf dem Höhepunkt ihrer Kunst perfektioniert die Songwriterin mit dem gebrochenen Herzen ihre Indie-Miniaturen von melancholischer Größe (Clouds In The Sky They Will Always Be There For Me). Die perfekt Mischung aus beiden ist sicherlich das neue Album des deutsch-dänisches Blues Rock-Crooners Jesper Munk, der mit Yesterdaze die letzten Jahre auf nostalgisch-verschwommene Weise in einer Mischung aus ruhigen Soul, Blues und Rock Revue passieren lässt.
Schließlich wird der Held aller Gitarristen, Jimi Hendrix, mit der Compilation Electric Lady Studios: A Jimi Hendrix Vision gefeiert, die einen völlig neuen Blick auf die letzten Kompositionen seiner Karriere bietet, mit den Sessions vom Juni 1970 in seinem neuen Studio in Greenwich Village.
Metal & Hard Rock
Das langgezogene Schluchzen der Gitarren im Herbst: Swallow the Sun tragen den perfekten Namen, um sich für die kalte Jahreszeit zu wappnen.. Bedrückung und Melancholie stehen auf dem Programm dieses Shining voller schöner Versprechungen. Im Gegensatz zu dieser kontemplativen Langsamkeit zückt Devin Townsend sein fröhlich-verrücktes PowerNerd, dessen Kompositionen in weniger als zwei Wochen entstanden sind. Die Boxen sind voll mit Energie und Wahnsinn, denn dieser Workaholic lässt sich von nichts aufhalten.
Die Fans von Alice In Chains müssen sich noch etwas gedulden, da Jerry Cantrell beschlossen hat, ein neues Soloalbum mit dem Titel I Want Blood zu veröffentlichen. Gleichzeitig ist die Illusion so gut wie perfekt, denn der Sänger und Gitarrist ist der Komponist, der fast alles geschrieben hat, was den Erfolg der Band ausmacht und sie ins Rampenlicht gebracht hat. Magische Riffs und gedoppelte Stimmen wie nie zuvor: Unsere Franzosen sind zu Beginn der grauen Jahreszeit nicht zu unterschätzen. Nachdem Lofofora mit ihrer Single La Machette für Aufsehen gesorgt hatten, treten sie mit ihrem Album Cœur de Cible wieder auf das Gaspedal.
Für alle, die sich den Death Metal um die Ohren hauen wollen, gibt es Loudblast mit Altering Fates and Destinies, ein Album, das der Bandleader Stéphane Buriez als düster und kraftvoll beschreibt; im Spannungsfeld zwischen dem Respekt vor der Tradition und dem Wunsch, sich weiterhin eine eigene Identität zu schaffen, indem man sich keine Schranken auferlegt.
Klassik
Sie gehört (noch) zu den wenigen weiblichen Trompeterinnen, die eine Spitzenkarriere hingelegt haben. Alison Balsom veröffentlicht zusammen mit Trevor Pinnock und seinen Pinnock’s Players das Baroque Concertos — eine meisterhafte Einspielung mitunter der größten Trompetenkonzerte von unter anderem Vivaldi, Albinoni, Händel und Telemann. Alte Musik gibt es auch beim Vokalensemble Irini, das Anfang des Monats das Album Printemps Sacré abliefert, ein gewagtes Programm, in dem die Renaissance-Polyphonie von Heinrich Isaac und andere georgische liturgische Gesänge aus derselben Epoche gespiegelt werden. Kurz darauf wird ein anderer Heinrich, Heinrich, Schütz, bei Ricercar vom belgischen Ensemble Vox Luminis und seinem hervorragenden Dirigenten Lionel Meunier geehrt, die ein Weihnachtsoratorium von größter Wirkung aufführen.
Zudem veröffentlichen das Orchestre symphonique de Montréal und sein Chefdirigent Rafael Payare bei Pentatone ein virtuoses Diptychon rund um die beiden Hauptwerke Schönbergs: Pelléas et Mélisande und La Nuit Transfigurée (Verklärte Nacht). Das mit Spannung erwartete Mozart-Requiem von Raphaël Pichon und einem Ensemble Pygmalion in Bestform sollte sicherlich auch nicht unerwähnt bleiben: Das Album wird bereits von der Presse einstimmig gelobt. Und die Sopranistin Aleksandra Kurzak verzaubert uns mit ihrer Hommage an die Sängerin des 19. Jahrhunderts Cornélie Falcon.
Und auch das Klavier kommt diesen Monat nicht zu kurz, mit einigen wichtigen Veröffentlichungen: Mozarts Klavierkonzerte Nr. 20 und Nr. 23, die von der Starpianistin Khatia Buniatishvili in einer epochalen Version meisterhaft gespielt werden, Igor Levit zusammen mit Christian Thielemann und einer Einspielung von Brahms Klavierkonzerten, Víkingur Ólafsson, der nach Bachs Goldberg Variationen eine Zugabe mit der EP Continuum präsentiert sowie schließlich eine erschütternde posthume Veröffentlichung des verstorbenen Maurizio Pollini im Tandem mit seinem Sohn Daniele mit einem düsteren Schubert-Programm.
Rap
In diesem eher ruhigen Monat Oktober sind auf der anderen Seite des Atlantiks dennoch mehrere wichtige Alben erschienen, angefangen mit dem posthumen Album des verstorbenen Rich Homie Quan, der am 5. September 2024 an den Folgen seiner Sucht gestorben ist. Das testamentarische Albumnamens Forever Goin In ist ein Archetyp des Atlanta-Sounds mit seinen Trap-Prods, die von Piano und übersteigerter Sensibilität geprägt sind Weiter nördlich hat Tee Grizzley seine Diskografie weiterhin mit ausgezeichneten Ideen gespickt, von denen die letzte, Post Traumatic, in ein Album von großer Virulenz verwandelt wurde, trotz ruhigerer Titel wie der Single Blow for Blow mit J. Cole oder dem großartigen Situationship mit Mariah The Scientist.
In einer Ästhetik, die eher vom Rap der 1990er Jahre geerbt ist, veröffentlicht Benny The Butcher ein Album zusammen mit 38 Spesh, einem anspruchsvollen Rapper, der seit über 15 Jahren aktiv ist. Ihre Zusammenarbeit heißt Stabbed & Shot 2 und ist eine Demonstration der Meisterschaft, an der mehrere Größen wie Busta Rhymes oder Harry Fraud beteiligt sind. Schließlich veröffentlicht der Kalifornier Yeat mit Lifestyle ein wichtiges Album in seiner stetig wachsenden Karriere, das sich Fans von bizarrem und pompösem Rap nicht entgehen lassen sollten. Absolutes Highlight und beste Überraschung ist jedoch das neue Album von Tyler, The Creator, CHROMAKOPIA, das die Grenzen des Universums dieses besonderen Künstlers erweitert und die musikalische Kontinuität des vorherigen Albums Call Me If You Get Lost fortsetzt. Eine unberechenbare und intensive Platte, auf der Tyler sich mit der Angst vor dem Erwachsenwerden auseinandersetzt.
Soul, R&B, World Music
Sie ist und bleibt der Star der aktuellen Soul- und Jazzszene. Die New Yorker Sängerin Samara Joy hat in den letzten drei Jahren immer wieder Perfektion erreicht und dabei eine Klangtradition fortgeführt, die im Erbe großer Stimmen wie Abbey Lincoln oder Ella Fitzgerald steht. In acht Stücken, die auf der EP Portrait zusammengefasst sind, lässt sie fast ein ganzes Jahrhundert Musikgeschichte wieder aufleben. Eine weitere Wohltat ist die Stimme des Soulman Leon Bridges, die auf seinem neuen Album Leon zu hören ist, das stärker als seine Vorgänger von den Country-Codes geprägt ist und einen willkommenen organischen Pop-Ansatz aufweist.
Die kapverdische Sängerin Mayra Andrade hat allmählich eine erfolgreiche Plattenkarriere hinter sich. Vor kurzem hat sie ihre Lieder in einer Gitarren-Gesangs-Version wieder auf die Bühne gebracht und ReEncanto ist der Mitschnitt eines dieser Konzerte in London. Schließlich kommt die Überraschung des Monats (oder sogar des Jahres) von Here and Now, dem Album des Marokkaners Walid Ben Selim im Duett mit der klassischen Harfenistin Marie-Marguerite Cano. Walid Ben Selim verarbeitet darin Sufi-Gedichte in Liedern. Ein Live-Album, das schwebende Schönheit, eine vom Licht durchdrungene Melancholie einfängt und der Idee der sakralen Musik wieder einen Sinn verleiht.