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Album der Woche: Keith Jarrett, Gary Peacock, Paul Motian — “The Old Country - More from the Deer Head Inn”

Das Label ECM hat in seinen Archiven nach bisher unveröffentlichten Bändern des außergewöhnlichen Konzerts gesucht, das Keith Jarrett 1994 unter dem Titel “At the Deer Head Inn” veröffentlichte. Dreißig Jahre später ist die in “The Old Country” ausgegrabene Musik immer noch großartig und umso bewegender, wenn man bedenkt, dass der durch einen Schlaganfall geminderte Pianist mit 89 Jahren wohl nie mehr auf die Bühne zurückkehren wird.

Keith Jarrett 1992 © Wolfgang M. Weber

Man muss sich in die Situation zurückversetzen, um den einzigartigen Platz zu verstehen, den dieses meisterhafte Konzert in der Karriere des Pianisten einnimmt, dessen Legende durch The Old Country gewissermaßen wiederbelebt wird. Zu Beginn der 90er-Jahre befindet sich Keith Jarrett kurz vor seinem 50. Geburtstag auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und seiner Kreativität. Seit etwa zehn Jahren arbeitet er zusammen mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette daran, die Ästhetik des Trios durch eine innovative Interpretation des Standardrepertoires zu revolutionieren (siehe Bye Bye Blackbird, 1993). Seine großen lyrischen Soloklavierabende, die in den 1970er Jahren begannen, füllen mittlerweile die renommiertesten Konzertsäle der Welt mit ekstatischen Menschenmengen (z. B. Paris Concert, Vienna Concert oder La Scala).

Vor diesem Hintergrund des anhaltenden Starrummels erscheint At the Deer Head Inn nach seiner Veröffentlichung 1994 wie eine Art Ausreißer aus der reichen Diskografie des Pianisten. Nicht nur, dass Jarrett dort in einem obskuren Jazzclub im tiefsten Pennsylvania, dem “Deer Head Inn”, auftritt — was sich schnell als der Ort seiner ersten professionellen Engagements im Jahr 1962 herausstellte. Doch der Pianist bricht mit der mehr als zehnjährigen Treue zu seinem berühmten “Standardtrio” und tritt in einer neuen Besetzung auf, in der neben seinem Stammbassisten Gary Peacock auch der Schlagzeuger Paul Motian mitwirkt. Letzterer war der historische Partner seines legendären Trios Ende der 60er Jahre mit Charlie Haden am Kontrabass (Life Between the Exit Signs) und des berühmten “amerikanischen Quartetts” (mit Dewey Redman am Saxophon), das sich im Oktober 1976 nach den Aufnahmen von Byablue und Bop-be auflöste und damit die Zusammenarbeit beendete.

An jenem 16. September 1992 herrscht eine ganz besondere Atmosphäre des Wiedersehens in der Intimität eines Clubs voller persönlicher Geschichten und im Kontext einer Band, die in ihrer Zusammensetzung neu ist und paradoxerweise aus langjährigen Weggefährten besteht, die verschiedene Epochen ihres Bestehens geprägt haben. Um die Pensionierung der historischen Besitzer des Deer Head Inn auf seine Weise zu feiern und ihnen seine Treue zu bezeugen, ließ sich Keith Jarrett ohne Zweifel und in vollem Vertrauen auf dieses Konzert ein, das von Inspiration, Spontaneität und emotionaler Konzentration geprägt ist. At the Deer Head Inn hatte uns vor dreißig Jahren einen ersten Eindruck davon vermittelt. The Old Country bestätigt nun den außergewöhnlichen Charakter dieses buchstäblich schwebenden Moments.

Mit einem Repertoire von Standards (Everything I Love und All of You von Cole Porter, Straight No Chaser von Thelonious Monk, I Fall in Love Too Easily von Jule Styne, Someday My Prince Will Come von Frank Churchill, How Long Has This Been Going On von Gershwin, Golden Earrings von Victor Young und The Old Country von Nat Adderley), finden die drei Musiker, die eine einzigartige Form telepathischer Komplizenschaft an den Tag legen, in dieser Art verzauberter Klammer die Essenz des Jazz wieder — eine Musik par excellence des Augenblicks und des Teilens.

Getragen von der abstrakten Lyrik von Motians gestischen und bewegenden Schlagzeug, in intensiven augenblicklichen Dialogen mit Peacocks Kontrabass, taucht Keith Jarrett mit dieser formalen Freiheit, die durchweg durch einen angeborenen Sinn für Gesang und Vokalität hervorgerufen wird, in das Innerste dieser zeitlosen Melodien ein, um ihre unberührte Modernität hervorzuholen. Dieses Trio lebte nur einen Abend lang, sein flüchtiger Zauber konnte aber zum Glück auf zwei Aufnahmen eingefangen werden.