Panoramas

Tschechische Philharmonie: Böhmens Weltklasseklang

Das Orchester stellt mit Dvořák-Sinfonien und tschechischen Orchesterliedern seine Kernkompetenz unter Beweis.

Beim Gründungskonzert der Tschechischen Philharmonie vor bald 130 Jahren stand kein Geringerer als Antonín Dvořák am Pult des Prager Orchesters, 1908 dirigierte Gustav Mahler die Uraufführung seiner siebten Sinfonie mit den Pragern. Im 20. Jahrhundert war Rafael Kubelík seit 1942 der prägende Dirigent, als weiterer wichtiger Name am Pult galt Václav Neumann, dessen Assistent 1972 ein gewisser Jiří Bělohlávek wurde. In den 1990er Jahren war Bělohlávek dann selbst Chef des Orchesters, bevor es ihn nach England zog, denn in Prag wollte man sich ein internationaleres Image zulegen. Doch folgten für das Orchester unruhige Jahre, in denen Gerd Albrecht als Chefdirigent für seine deutsche Herkunft angefeindet wurde und glücklos blieb, woraufhin sich einige Nachfolger in kurzen Abständen ebenso glücklos die Klinke in die Hand gaben.

2012 kehrte Jiří Bělohlávek zurück nach Prag und verhalf dem Orchester bis zu seinem Tod 2017 zu neuem Glanz. Seit 2018 steht nun Semyon Bychkov dem Orchester vor, Hauptgastdirigent ist seit 2015 der zunehmend international durchstartende Jakub Hrůša. Und mit Beginn der Saison 2024/25 teilt er sich diesen Posten mit Sir Simon Rattle, der einen Vertrag für fünf Jahre unterzeichnet hat. Außerdem erhält diese Position auf Rattles Wunsch hin den Titel “Hauptgastdirigent zu Ehren von Rafael Kubelík”.

Der Glanz ist also längst zurück bei dem Prager Spitzenorchester, das mit dem ehrwürdigen Rudolfinum zudem einen charismatischen Spielort mit einzigartiger Akustik besitzt, am Ufer der Moldau gelegen. Den Turnaround, die Rettung vor dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit aber schaffte Jiří Bělohlávek, der die Zügel streng anzog, in Prag mehr Abo-Konzerte anbot und zugleich auf internationale Gastspiele setzte. Und er sorgte dafür, dass der Klangkörper seine Kernkompetenz wieder stärker in den Fokus stellte. Denn der Klang des Orchesters beeindruckt bis heute durch genau das, was eigentlich ein Klischee ist. Nämlich mit jenem weichen, samtigen Klang und einer frei schwingenden Musizierlust, die man sich unter dem Stichwort “böhmisch” vorstellt. Bělohlávek wusste das 2016, auf der ersten Höhe seiner Erfolge zu präzisieren: “Der Grund des Klanges ist ein satter und weicher, sehr elastischer Klang der Streicher und dazu kommt der prägnante, sehr direkte Klang vom Holz mit leicht vibrierenden Hörnern und ziemlich substanziellem Blech.

Familientraditionen fürs 21. Jahrhundert

Nun erscheinen gleich drei Einspielungen mit der Tschechischen Philharmonie, Dvořáks letzte drei Sinfonien unter der Leitung von Semyon Bychkov, tschechische Orchesterlieder (Czech Songs) von Dvořák, Martinů, Hans Krása und Gideon Klein mit Magdalena Kožená unter der Leitung von Sir Simon Rattle. Und demnächst folgen Dvořáks Legenden und Slawische Rhapsodien mit Tomáš Netopil am Pult, eine weitere Aufnahme des Orchesters mit tschechischen Komponisten im Jahr der tschechischen Musik 2024.

David Mareček, Generaldirektor der Tschechischen Philharmonie, erklärt am Telefon, dass Dvořáks berühmteste Sinfonien natürlich das Profil des Orchesters unterstreichen und zudem äußerst populär seien, besonders die 9. Sinfonie Aus der Neuen Welt. Ein bisschen anders verhalte es sich mit der Einspielung unter Rattle und mit Kožená: “Die erste Aufnahme mit Liedern beinhaltete internationale Lieder, also weltweite Volkslieder. Mit den tschechischen Liedern aber sind wir in der musikalischen Heimat von Magdalena Kožená.

Besonders am Herzen liegt Mareček die kommende Veröffentlichung der Legenden und Rhapsodien unter Tomáš Netopil, der bis zur letzten Saison der Hauptgastdirigent vor Rattle war: “Diese Werke sind nicht so bekannt, aber es ist ganz außerordentliche Musik, einige Musiker sagen, in den ‚Legenden’ sei alles in konzentrierter Form zu finden, was Dvořák ausmacht. Und die ‚Rhapsodien’ wurden damals im Gründungskonzert gespielt, Grund genug, sie nun einzuspielen.

Den böhmischen Klang zu beschreiben, tut sich auch Mareček schwer, aber er kann erklären, warum es ihn tatsächlich gibt: “Ganz einfach, die Tschechische Philharmonie ist zu 90 Prozent ein tschechisches Orchester. Es gibt Familientraditionen: Der erste Solocellist ist der Sohn des Primgeigers, auch in den Bläsern, etwa bei den Klarinetten gibt es solche Familien-Linien. Die tschechischen Musiker wachsen mit der gleichen Musik auf, sie singen die gleichen Volkslieder und lesen die gleiche Literatur. Es gibt also eine gemeinsame kulturelle Prägung.

Bytschkow sieht die tschechische Musik als Weltklasse-Musik, aber er geht immer zurück zu ihren Wurzeln. Er schafft es, die Tradition zu bewahren, aber in den weltweiten Kontext zu setzen.

—  David Mareček

Semyon Bychkovs Einspielung der Dvořák-Sinfonien beeindruckt durch einen dunkel glühenden Sound und eine drängende Intensität, die gar nichts Volkstümelndes, Gemütliches hat. Mareček schätzt an Bychkovs Dvořák-Interpretation das, was er eine holistische Sicht auf die tschechische Musik nennt, und das gelte auch für Smetana und Janáček: “Er sieht sie als Weltklasse-Musik, aber er geht immer zurück zu ihren Wurzeln. Er schafft es, die Tradition zu bewahren, aber in den weltweiten Kontext zu setzen.”

Im Übrigen finde der böhmische Klang von selbst seinen Weg ins 21. Jahrhundert, so Mareček: “Der Unterschied zu früheren Zeiten: Heute gibt es viel bessere Möglichkeiten, im Ausland zu studieren. Viele unserer leitenden Musiker haben zuerst in Tschechien, dann aber in Deutschland, Österreich, den USA oder in England studiert. Dort geht es hin: Wir wollen die tschechischen Wurzeln bewahren und das, was uns unterscheidet. Wir wollen nicht uniform sein und doch Weltklasse.”

*Beitrag aus dem rondomagazin.de 06/2024.